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Durch den Alpinismus und Fremdenverkehr waren in Sexten nicht nur neue Berufsgruppen, wie die Bergführergilde, entstanden – auch einige der alteingesessenen Handwerker erlebten in dieser Zeit einen merklichen Business-Aufschwung. So etwa die Schuster. Der Grund dafür lässt sich einfach erklären: mit den Gipfelbesteigungen nahm auch der Schuhverschleiß rapide zu. Die ersten Bergabenteuer wurden von den Sextner Bergführern und ihren Schützlingen in zweierlei Schuhwerk bestritten. In schweren, ledernen Nagelschuhen ging es bergauf bis zum Felseinstieg, weiter dann in improvisierten Kletterschuhen aus Segeltuch mit einer weichen Sohle aus zusammengenähten alten Stoffresten, den „Zararotschn“. Für beide Arten der Fußbekleidung waren natürlich die einheimischen Schuster die erste Adresse – sei es bei der Anschaffung, als auch für die ständig nötigen Reparaturarbeiten. Nach jeder Bergtour mussten die verlorengegangenen Nägel an den Wanderstiefeln ersetzt und die abgenutzten „Zararotschn“ gestopft werden. Die geschäftstüchtigen Schuster reagierten auf die wachsende Nachfrage in den Sommermonaten mit strategisch günstig gelegenen Schuh-Servicestellen.
Echte Superstars des frühen Alpinismus in den Sextner Dolomiten waren die Brüder Michl und Hans Innerkofler. Zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Michl war im Dorf als fokussierter, zäher Typ bekannt, der sein Ziel niemals aus den Augen verlor. Und das war in erster Linie die Entjungferung zahlreicher Berggipfel der Sextner Dolomiten. Eine Meisterleistung, die ihm den Beinamen „Dolomitenkönig“ einbrachte. Er lebte sehr bescheiden – ja, geradezu spartanisch, war beliebt und trank keinen Tropfen Alkohol. Das glatte Gegenteil: sein Bruder Johann, das „Gamatzmandl“. Auf keinem Fest zwischen Bruneck und Lienz durfte der hagere Gamsjäger fehlen. Und er hat wohl auch sonst gerne mal eins über den Durst getrunken. Dennoch galt er als ausgezeichneter Kletterer und für seinen Bruder war er die erste Wahl, wenn es um einen Begleiter für seine Erstlingstouren ging. Gewusst wie: Michl sperrte den Saufbold vor jeder größeren gemeinsamen Tour in seine Kammer und bestand darauf, ihm das Essen persönlich zu bringen. Ein Schnäpschen gönnte dem älteren Bruder erst nach dem erfolgreichen Gipfelsieg.
Sexten, Ende des 19. Jahrhunderts. Alpinisten aus aller Welt strömen ins Bergsteigerdorf, um von hier aus die markanten Felsdome der Sextner Dolomiten zu erklimmen. Wer hätte gedacht, dass in dieser Zeit eine bescheidene Holzbank vor dem Gasthaus „Zur Post“ als improvisiertes Tourismusbüro diente? Hier, am „Bergführerbankl“ warteten die klettertüchtigsten Sextner auf die „Fremden“, die regelmäßig per Postkutsche vom Bahnhof in Innichen ankamen. Am Bankl wurden Dolomiten-Touren besprochen, so manche heldenhafte Erstbesteigung angepriesen und Führlöhne ausgehandelt. Einmal, so erzählte man sich, wollte ein Gast beim Bergführer Johann Forcher eine Wanderung auf den leicht besteigbaren Helm am Karnischen Kamm buchen. Dieser winkte zum Erstaunen des Zahlwilligen jedoch nur ab: er kenne den Weg dorthin nicht. Die imposante Gipfelwelt auf der gegenüberliegenden Talflanke war wohl eher seine Kragenweite.